Schöpfungsgeschichte
Kapitel Eins - Der Gesang der Götter
Dort, wo sich Dunkelheit und Stille zusammengefunden hatten, weilte Eluive und lauschte
dem Nichts. Wie die Noten eines Liedes reichten sich ihre Gedanken die Hände und formten
eine Melodie, die sich wie ein Sonnenstrahl einen Weg durch die Finsternis bahnte und das
leere Schweigen mit Leben erfüllte. Eluive sang zu dieser Melodie und die harmonischen
Klänge verneigten sich zu Gestein.
»Es hat also begonnen«, dachte Horteras, als er den Gesang seiner Schwester in der Ferne
hörte. Er hatte sie gewarnt – und doch war die Melodie so schön, dass sie seine zweifelhaften
Gedanken bannten und er in Frieden den Klängen lauschen konnte.
Und Eluive sang weiter, denn sie erwartete zwei Kinder. Sie wusste, dass der Klang ihrer
Stimme dazu gemacht war, neue Welten zu formen. So wollte sie eine Welt schaffen, auf der
ihre beiden Kinder leben und aufwachsen könnten. Das Gestein nahm Form als, als ihr Gesang weiter durch ihn durchdrang. Wie ein Wurm fraß er sich durch das harte Material; übrig
blieben Berge, Höhlen und Täler. Als Eluive der Melodie gebot, sich niederzulegen, gehorchte
sie. Flüsse und Sehen entstanden, deren Plätschern noch heute daran erinnert, wie der
schöpferische Gesang klang.
Eluive betrachtete das Werk ihrer Musik und sie war zufrieden. Ihre Kreativität war jedoch
lange nicht ausgeschöpft. Gestirne hatten sich aus den Klängen gebildet, die weit zu hören
gewesen waren. Ihnen gebot Eluive, Instrumente zu spielen. In der göttlichen Harmonie mit
dem Wasser und den Instrumenten der Gestirne wurde das Land fruchtbar und Eluive gebot
den Pflanzen, in die Höhe zu wachsen. Gräser, Sträucher, und Kräuter wuchsen so heran. Sie
war angetan von der Vielfalt der Pflanzen und erschuf größere Pflanzen, die alle anderen
überragten. Eluive schenkte ihnen sogar ein eigenes Lied, das Lied des Waldes.
Entzückt von ihrer Schöpfung betrachtete Eluive die neue Welt. Doch etwas fehlte in der
harmonischen Landschaft. Leben. Es fehlte Leben, welches Veränderung bringen sollte. So
schuf Eluive die Tiere in ihrer Vielfalt und ein jedes auf seine eigene Art und Weise fähig, mit
dem Leben und seiner Umwelt unbefangen umgehen konnte. So schien die Welt im ersten
Moment perfekt.
Doch Eluive wollte mehr.
So wagte sie den Schritt, vor dem sie ihr Bruder Horteras eindringlich gewarnt hatte. Eluive
nahm ein Stück Erde und etwas ihrer lieblichen Melodie und formte daraus ein weiteres Geschöpf. Sie gab ihm den Namen ›Mensch‹. Es war ein Mensch wie Du und ich; nur von seiner
Schönheit her war er perfekt. Aber der Mensch war einsam.
Eluive spürte sein Verlangen. Zwar hatte er ein Heim, das einem Paradies glich, dennoch
sehnte er sich nach einem Gleichgesinnten, mit dem er reden, singen und sich freuen konnte.
So gab Eluive dem Bedürfnis ihres Geschöpfes nach und erschuf seinem Abbild nach einige
Männer und Frauen. Außerdem verlieh sie ihnen die Kraft, sich selbst fortzupflanzen.
Horteras trat an seine Schwester heran. Ihm stand die Bewunderung ins Gesicht geschrieben,
als er die Welt betrachtete, die Eluive geschaffen hatte.
»Eluive«, sprach der dann zu ihr. »Du solltest sie nicht namenslos lassen.«